Mittwoch, 18. Juni 2008

Milngavie–Drymen, 21 Kilometer

Wir wachten gut entspannt auf, obwohl uns die Geräusche des Hauses ("Tropft da was?") manchmal etwas irritiert hatten. Nach einem umfangreichen Frühstück ging es los, zunächst zur Tankstelle, die wir gestern gefunden hatten. Leider war dort kein Benzin für den Kocher zu bekommen – wegen eines Streiks gab es nur noch Diesel, was sich nicht lohnt, und darum war gleich die ganze Tankstelle zu. Das Touristbüro verkaufte Camping-Gaz-Kartuschen und Terpentin – aber keinen "Coleman Fuel". Coleman Fuel gibt es auch bei uns, aber hier ist es ähnlich synonym für Benzinkocherbenzin wie bei uns Tempo für Papiertaschentücher und Tesa für transparentes Klebeband. Jeder weiß, was gemeint ist. Dennoch sind Kocher für Coleman Fuel in Schottland leider totaaal unüblich, wie uns die junge Dame im Touristbüro versicherte, was daran liege, dass Coleman Fuel sechs bis acht Pfund pro Liter koste und der Schotte bekanntlich in seinem Ausgabenverhalten eher dem Schwaben gleicht. Verkauft werden darf der Coleman Fuel zudem ebenfalls kaum, nämlich nicht in Gebieten, in denen Menschen unmittelbar wohnen – wegen der eklatanten Explosionsgefahr. Gaskartuschen und Terpentin sind dagegen natürlich völlig harmlos. Besonders in großen Mengen. Die nächste Tankstelle könnte es in Drymen geben – dort müssen wir also heute hin. Das sind über 20 km. Eine fiese erste Etappe.

Also verließen wir Milngavie ohne Benzin, dafür frohen Mutes. Schon nach wenigen hundert Metern eröffneten sich links und rechts Blicke auf die "Moors". Moors sind nicht bloß Moore im deutschen Sinne, sondern auch Sümpfe, trockene und nasse Heidegebiete und ganz allgemein auch mystische Landschaften.

Wir wurden von einem einsamen Wanderer überholt, als wir gerade einen Schluck Wasser tranken. Dann trottete er einen Kilometer weit ein paar Meter entfernt vor uns her, immer im gleichen Tempo wie auch wir. Schließich hielt er an, um einen Blick auf die Karte zu werfen. In Wahrheit, so vermuteten wir, ließ er uns passieren. Wer alleine wandert, will in der Regel auch alleine sein, und ansonsten spricht er jemanden anders an. Entsprechend zockelte er dann hinter uns drein, etwa 300 bis 500 Meter entfernt. Plötzlich wurde er durch Shitloads of People (© Annett) verschluckt, die sich in großer Eile einer schäumenden Woge gleich heranwälzten. Es waren Männer und Frauen jeden Alters und bar jeder vernünftigen Flüssigkeitsversorgung, dafür mit jeder Menge für eine Wanderung ungeeignetem Schuhwerk ausgestattet. Sie holten auch uns ein, verschluckten uns an der Spitze und spien uns an ihrem Ende wieder aus. All dies geschah in einer wundervollen, offenen Hügellandschaft (den Lowlands) mit Blick auf ungewöhnliche Vögel mit säbelförmigen Schnäbeln.

Zäune und Wälle mussten wir übersteigen. Wo der Weg einen Zaun kreuzt, sind Stiegen eingebaut, über die man recht bequem die Seiten wechseln kann. Bei der zweiten Stiege half uns jemand aus der letzten Kleingruppe der Shitloads of People©, die wir mittlerweile wieder eingeholt hatten – er sprach Katja in lupenreinem Deutsch an, ob er helfen dürfe. Im anschließenden Gespräch stellte sich heraus, dass die vielen Leute zu einer deutschen Biotechfirma gehörten, deren schottische Tochter heute ihren Wandertag hatte. Im Sichtfeld unserer ersten gesichteten Whisky-Destillerie (Glengoyne) verabschiedeten wir uns voneinander. Sie gingen weiter, wir machten an einer Wegkreuzung Mittagspause.

Während wir darauf warteten, dass sich unsere Muskeln nicht mehr protestierend gegen uns erhoben und wir entsprechend weitergehen konnten (und dass unsere schweißgetränkten Klamotten trockneten) klebte sich Katja Pflaster auf die ersten Schubberstellen an ihren Hüften. Dann trafen ein Paar aus Philadelphia, danach vier Damen aus North Carolina ein. Auch sie wollten bis Fort William wandern – allerdings mit sehr leichtem Gepäck: ein bisschen Wasser, ein bisschen Essen, Regenbekleidung. Der Rest wird mit einem Transportservice von Etappe zu Etappe transportiert. Niedlich war die jüngste der vier Nordkarolinerinnen: Als sie hörte, dass wir aus Deutschland kommen, sagte sie "Ah, that's why I can understand you". Schön, dass auch native Sprecher Sprachprobleme in dieser Gegend haben (Mollgäi?).

Anschließend liefen wir Kilometer um Kilometer auf einer alten Bahntrasse ohne Schienen entlang. Laaaaaaangweilig. Ab und an kam zur Abwechslung ein Gatter, das zu öffnen und zu schließen war (Katja: "Diese Dinger gehen mir jetzt schon auf den Keks"), aber das war's dann auch. Bei etwa Kilometer 16 gab es ein Café mit einer gemähten Wiese, die als wilder, aber genehmigter Campingplatz fungierte. Das Café namens Wishingwell Farmhouse hatte durchaus ernst zu nehmende Gerichte auf der Karte. Wir hatten eine gebackene Kartoffel (Katja) und ein Sandwich (ich), beide mit Cream Cheese und Lachs aus der Gegend. Sehr, sehr empfehlenswert! Doch zum Bleiben war es noch zu früh, deshalb gingen wir wieder. Den nächsten Campingplatz in zwei Kilometer Entfernung wollten wir uns auch noch ansehen.

Hätten wir es mal bleiben lassen.

Denn nun wurde es so richtig anstrengend, und das zum Ende des Tages. Wir gerieten in die Ausläufer der Highlands. Hügel um Hügel erklommen wir, und die Aufstiege waren teilweise ziemlich heftig. Schließlich kamen wir ziemlich gerädert beim Campingplatz an, mit dem Gedanken an ein schönes, fettiges, schottisches Frühstück morgen früh und ein schönes, fettiges Abendessen heute Abend. Aber das gibt es nur in B&Bs und Pubs, nicht auf improvisierten Zeltplätzen auf Farmhousegelände inmitten der Lowland-Pampa. Darum tasteten sich unsere Gedanken schon einmal vorsichtig bis Drymen vor, wo wir ohnehin eigentlich des Sprits wegen noch hinwollten.

Doch erst einmal trafen wir wieder auf den einsamen Wanderer von vorhin. Er kommt aus Glasgow und wandert wie wir mit Gepäck nach Fort William. Gemeinsam gingen wir zum Büro des Campingplatzes, wo er seine fünf Pfund für die Nacht bezahlte. Ich, noch unschlüssig, ob wir bleiben würden, fragte den Inhaber nach Coleman Fuel. Er nahm mich mit nach hinten, wo er einen 20-Liter-Benzinkanister hervorkramte und großzügig in meine 0,6-Liter-Spritflasche eingoss. Geld wollte er keines haben, aber ich nötigte ihm dennoch zwei Pfund auf, denn wir blieben nicht, wie Katja in der Zwischenzeit beschlossen hatte.

Weiter ging es ins zwei Kilometer entfernte Drymen, wo wir ein B&B und ein Pub fanden. Der Wirt hatte etwa unser Alter und wollte 70 (!) Pfund für die Nacht haben. Wir sagten ihm, dass sei außerhalb jeglicher Diskussion und machten Anstalten zu gehen. Erst senkte er den Preis auf 60 Pfund, schließlich auf 56. Der Campingplatz hätte 5 Pfund pro Nase gekostet...

Drymen ist klein. 800 Einwohner soll es laut Reiseführer geben. Dennoch gibt es viel Touristennepp: "Kunst", "Töpferhandwerk" und so ein Zeug. Muss daran liegen, dass das größte Gebäude des Ortes das zentral am Platz gelegene Best-Western-Hotel ist, wo busladungsweise ältere Herrschaften absteigen. Zudem existiert noch ein Outdoorladen, ein Post Office und ein Spar-Supermarkt, in dem wir uns eindeckten: neues Wasser, Brot, Käse aus der Tube, Äpfel und – Katjas Tagesstreckenbelohnung – eine Tüte Thai-Sweet-Chili-Kartoffelchips. Im Edeka bei uns umme Ecke hätte dieser Einkauf etwas unter 20 Euro gekostet (da kostet *alles* um 20 Euro, egal, wie voll der Einkaufswagen ist. Erstaunlich, aber seit der Euroeinführung immer wieder bestätigt worden. Vor der Euroeinführung waren es übrigens immer um 20 *Mark*). Hier bezahlten wir exakt 5 Pfund und 80 Pence. Und das, so sagte uns der Wirt, obwohl die Lebensmittelpreise in den letzten zwei Monaten um fast 50 % gestiegen seien und Spar ohnehin die Apotheke unter den schottischen Supermärkten sei.

Schließlich streckten wir uns kurz im Bett aus. Katja entschied sich für ein Nickerchen, ich ging stattdessen ins Pub, um das Tagebuch zu führen.

Die wichtigste Nachricht des Tages: Uns tut alles weh. Alles. Die zweitwichtigste: Lokale Spezialität sind Pommes, überhäuft mit geriebenem Cheddar-Käse. Ziemlich fettig, das Ganze. Das Coleslaw (wer es nicht kennt: Das ist eine Art Krautsalat, nur besser, aus Weißkohl, Möhren und Zwiebeln in Mayonnaise) war erheblich besser. Kaum war mein Essen am Tisch, kam wie auf Kommando Katja ins Pub. Meinen Glengoyne-Malt wollte sie nicht, stattdessen bestellte sie Pommes (schlauerweise ohne den Käse) und ein halbes Pint Cider. Ich schloss mich dem Cider an, nahm aber ein ganzes Pint.

Unterdessen starteten die Spiele Schweden-Russland und Griechenland-Spanien. Nach der 1. Halbzeit verließen wir jedoch die Spelunke und dackelten – besser: eierten – heim. Mal sehen, wie es uns morgen so geht. Katja sagt, dass meine Füße müffeln.

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