Dienstag, 24. Juni 2008

Bridge of Orchy – Fort William, 20 Kilometer

Man sollte meinen, dass ein alteingesessenes Hotel gewisse Dinge routinemäßig erledigt. Etwa, seinen Gästen das Frühstück kredenzen. Doch manchmal irrt man sich in seinen Annahmen. Im Bridge of Orchy-Hotel lief einigermaßen alles schief, was beim Frühstück schief gehen kann. Allerdings habe ich den Verdacht, dass das nicht am Hotel selbst lag, sondern an der Dame mittleren Alters, die ein Gesicht zog wie Grotgork, weil sie uns bedienen musste. Es gab also Tassen, aber es gab keinen Tee. Es gab Toast, aber keine Teller. Dann kam Tee, aber Zucker und Milch fehlten. Dann kam ein Teller, aber kein zweiter. Und außerdem kippelte der Tisch wie verrückt. Geschmeckt hat das Frühstück trotzdem, besonders das Porridge.

Wir brachen mit steifen (und mit "Deep Heat"-Salbe eingeschmierten) Achillessehnen um 8:30 Uhr auf, allerdings gaben wir vorher noch unsere Rucksäcke an der Rezeption für Travel-Lite auf. Für acht Pfund pro Tasche sollten sie nun von hier zum King's House Hotel transportiert werden, dem Ziel des Tages.

Von meinem Rucksack hatten wir das Deckelfach gelöst, in das wir unsere Regenhosen und den mit Wasser gefüllten Platypus verstauten. Das Erste-Hilfe-Paket wanderte an den Gurt der vor dem Urlaub gekauften Kängurutasche, in der wir alles Wichtige stets am Mann transportierten: Papiere, Kamera, Müsliriegel, Schmerztabletten und Blasenpflaster.

Noch als wir vor dem Hotel Wasser in den Platypus füllten, attackierten uns die ersten Midgie-Schwärme. Sofort setzten wir unsere in Tyndrum erworbenen Mückennetze auf den Kopf und hatten unmittelbar Ruhe vor den Plagegeistern. Zumindest am Kopf. Die Hände jedoch waren nur bei Bewegung oder Wind Midgie-frei. So zogen wir also los, total lächerlich aussehend mit unseren olivfarbenen Netzen auf den Köpfen.

Als erstes kam ein Hügel, der uns Tags zuvor Sorge bereitet hatte, weil er laut Landkarte ziemlich steil war. Die Höhenlinien lagen ziemlich eng zusammen, und aus dem Druck ging nicht eindeutig hervor, wie steil wir würden gehen müssen. Lustigerweise bereitete uns der Berg keinerlei Probleme. Wir fanden die ganze Tour rauf und runter als ziemlich einfach. Später kamen wir darauf, dass dieses Empfinden möglicherweise ans Fehlen unserer Rucksäcke gekoppelt war.

Es folgte eine wunderbare Wanderung durch die Highlands – ohne Sicht und bei absoluter Windstille. Unsere Sichtweite betrug vielleicht ein Kilometer, vielleicht auch zwei, danach verschwand die Landschaft im Dunst. Die Sonne schien den ganzen Tag nicht, die tief hängenden Wolken lösten sich nicht auf. Dadurch, dass kein Wind blies, erklärten die Midges diesen Tag zu ihrem persönlichen Nationalfeiertag. Und das wiederum hieß, dass wir uns überlegen mussten, wie wir essen und trinken würden, ohne selbst zur Nahrung zu werden. Die Lösung war einfach: Während man sich bewegt, landen die Midges nicht, weil der "Fahrtwind", den man verursacht, offenbar unangenehm für sie ist. Das hieß, dass wir während des Gehens essen mussten. Wir hatten ohnehin nur Müsliriegel dabei, daher war das auch praktikabel. Netz hochklappen (huch! frische Luft!), essen, Netz wieder runterklappen.

Trinken war ebenso einfach. Ein Platypus sieht aus wie eine durchsichtige Capri-Sonne-Tüte mit zwei Litern Fassungsvermögen, nur dass der Inhalt in aller Regel nicht so chemisch schmeckt. Er hat oben etwa da, wo bei der Capri-Sonne der Trinkhalm rein muss, einen Schraubverschluss. Den Verschluss schoben wir unter dem Netz durch und drückten das Wasser einfach nach oben durch den "Trinkhalm". Bis die Midgies diesen Trick raushatten, waren wir nicht mehr durstig.

Auf halber Strecke nervte mich irgendwas in meiner Cargohose am rechten Bein. Ich blieb stehen und öffnete die Hose, um nachzusehen, was das war. Und ach du je - es war der Schlüssel zu unserem Bunkhouse-Zimmer. Ein riesiges Teil, das ich eigentlich hatte abgeben wollen, dann aber in die Tasche gesteckt hatte, um die Hände zum Platypus-Füllen frei zu haben. Was denn nun? Zurücklaufen? Katja hatte zwar ihr Handy mit in der Umhängetasche, aber die Telefonnummer des Hotels lag mit unserem Reiseführer zusammen im Rucksack, der gerade per Lieferwagen durch die Gegend geschaukelt werden dürfte. Obwohl...? Ich hatte ja von Tyndrum aus das Bunkhouse reserviert, also müsste die Nummer doch noch gespeichert sein! Aber – haben wir hier überhaupt Empfang, mitten im Rannoch Moor? Funkmasten konnten wir nirgends sehen. Katja schaltete das Telefon ein. Wir warteten auf die Signalstärke. Eine halbe Minute passierte nichts. Dann: Vodafone UK, volle Leistung.

Ich rief im Bridge of Orchy Hotel an und berichtete über meinen Fund. Dort lachte man nur und sagte, ich sei nicht der erste, dem das passiert sei. Im King's House solle ich den Schlüssel einfach abgeben und per Travel-Lite zurückschicken lassen. Die sind ja mal cool, die Leute.

Weil wir uns ob unserer geschundenen Fersen recht langsam bewegten, überholte uns eine englische Reisegruppe. Keiner von diesen Leuten war gegen Midgies gerüstet, alle wedelten permanent mit den Händen in der Luft herum. Einer sagte im Vorübergehen zu Katja: "I'll give you one thousand Pounds for that hat." Aber da, so fanden wir, wäre er wohl ein bisschen zu billig davongekommen. Schließlich hatten wir noch zehn, elf Kilometer vor uns! (Später stellte sich übrigens heraus, dass die englische Reisegruppe eigentlich eine deutsche Reisegruppe war, und der Typ mit dem 1000-Pfund-Angebot ihr hervorragend deutsch sprechender Reiseleiter.) Außerdem trafen wir unsere erste Reisebekanntschaft wieder, jenem allein reisenden Schotten aus Glasgow, der kurz vor Drymen auf dem Campingplatz geblieben war.

Die Highlands hätten wunderschön sein können, wenn wenigstens ein bisschen Wind gegangen wäre und die Midges vertrieben hätte. So aber steckten wir in unseren Mückennetzen fest, hinter deren dünner Stofflage sich trotz nur 10 oder 13 Grad Außentemperatur eine drückende Schwüle aufbaute. Sogar unsere Brillen beschlugen. Ich setzte meine ab und steckte sie in die Tasche. Im Gegensatz zu Katja bin ich nicht wirklich auf die Sehhilfe angewiesen.

Der Weg lief durch absolute Einsamkeit. Einige Kilometer östlich von uns verlief die Schnellstraße zwischen Glasgow und Fort William, die wir ab und zu sehen, jedoch nie hören konnten. Hätten wir aus irgendeinem Grunde zur Straße gemusst, wären wir aufgeschmissen gewesen. Sie war durch das Moor, das sich insgesamt noch für weitere 30 Kilometer nach Osten erstreckt, so gut wie unerreichbar. Damals in Irland hatten Béla und ich für eine Strecke von nur vierhundert Metern in vergleichbarem Terrain eine satte Stunde benötigt - und hinterher waren wir ziemlich kaputt.

Doch hatten wir gar keinen Anlass, zur Straße zu wollen. Der Weg, auf dem Katja und ich liefen, verlief deutlich oberhalb der Schnellstraße. Er bestand größtenteils aus einer alten Militärstraße der britischen Besatzer und war einigermaßen einfach zu gehen. (Andererseits haben die Römer 1500 Jahre früher bessere und haltbarere Straßen gebaut als die englische Armee im 18. Jahrhundert.) Wir fragten uns, unter welchen Umständen der Weg wohl gebaut worden war. Schottische Sklavenarbeiter? Ausländische Kriegsgefangene? Britische Strafkompanien? In jedem Fall haben die Arbeiter und ihre Aufseher wohl unsäglich unter den Midges leiden müssen.

Schließlich konnten wir unser Etappenziel King's House Hotel von unserem Weg aus sehen: ein weißer Fleck vor einem riesigen Bergmassiv. Links und rechts sonst nichts, nichts, nichts als Ödnis und der Schnellstraße als Verheißung von Zivilisation.

Die Bezeichnung "King's House" zeigt deutlich die schottische Wertschätzung gegenüber englischer Monarchengeschlechter: Als es den Namen erhielt, handelte es sich bei dem Gebäude um eine Viehtreiberunterkunft.

Etwa zwei Kilometer vor dem königlichen Gemäuer steht ein Schild mitten in der Pampa: "Cafe open 9-4". Darunter ein Pfeil nach links, der auf einen kleinen, offenbar frisch angelegten Weg weist. Dort geht es zum größten schottischen Skigebiet, dessen Café eben auch im Sommer offen hat. Wir entschieden uns ob der frühen Stunde, dorthin zu gehen.

Zunächst waren wir die einzigen Gäste in diesem modernen, wenig gemütlichen, aber vollständig aus Holz gebauten Cafékomplex. Doch wie so oft: Kaum hatten wir unsere Soups of the day bestellt (ja, es gab zwei: Carrots and Sweet Potatoes sowie Spicy Sweet Tomatoes; erstere war sehr, sehr gut, letztere schmeckte ein bisschen wie verdünnte Miracolì-Soße) stürmte eine Horde von zwei Leuten das Etablissement. Übrigens gab es hier kostenlosen Internet-Zugang. Um in den Genuss des Bloggens zu kommen mussten jedoch zwei Hürden überwunden werden: Erstens wurde die Geduld auf die Probe gestellt, denn anscheinend hatte es jemand geschafft, einen 386er mit Windows XP auszustatten. Dies war der definitiv langsamste PC, den ich je gesehen habe. Außerdem lag das @-Zeichen nicht da, wo es laut Tastaturbedruckung der englischen Standard-Windows-Tastatur hätte liegen müssen. Da ich Mac-User bin, weiß ich eh nicht, wo bei Windows das @-Zeichen liegt, und dann noch auf einer UK-Tastatur? Das @-Zeichen ist jedoch wichtig zum Bloggen, weil ich hier zur Anmeldung meine E-Mail-Adresse eingeben muss.

Ich behalf mich, indem ich eine Seite aufrief (rödel, rödel), auf der ein @ zu sehen war, kopierte es in die Zwischenablage und setzte es dann an entsprechender Stelle im Login-Fenster wieder ein. Und das alles im 386er-Tempo von 1993. Immerhin konnte ich ein paar Zeilen schreiben.

Unterdessen machte sich Katja Gedanken über die kommenden Tage – und entschied, dass wir die Wanderung beendeten. Allerdings schaffte sie es später, mich davon zu überzeugen, dass das einzig und allein meine Idee gewesen war. Wir verließen das Café und liefen zum zwei Kilometer entfernten King's House Hotel. Draußen tobte ein frischer Wind – die Midges waren gottlob endlich fortgeblasen.

Wir hatten bereits vorher durch Chris und Steve in Erfahrung gebracht, dass das King's House Hotel voll war. Wir wussten auch, dass die daneben gelegene Wiese, auf der man für eine Nacht zelten darf, keinerlei sanitäre Einrichtungen hat und das Hotel dem Zelter nicht zur Verfügung steht. Darum tranken wir einen Tee mit dem Schotten aus Glasgow, den wir in der Bar des Hotels trafen (wo ich den Schlüssel für Bridge of Orchy abgab und mich nach unserem Gepäck erkundigte) und der uns erzählte, er habe sich sein Zimmer bereits im Januar (!!) gebucht, um sicher für diese Nacht unterzukommen. Gegen 17 Uhr verabschiedeten wir uns, schauten auf dem Zeltplatz noch einmal nach Chris und Steve (wo bleiben die denn?) und gingen dann zur Straße, um auf den Bus nach Fort William zu warten.

Die Wolken, die dank des plötzlich aufgetretenen, munteren Windes endlich auch zu sehen waren, weil der Dunst mitsamt den Midges weggepustet worden war, waren phänomenal. Sie türmten sich an den Bergen auf, stiegen empor, krabbelten über ihre Gipfel und sanken auf der anderen Seite wieder herab. Doch dann kam schon der Bus, der uns leider viel zu schnell durch Glen Coe nach Fort William trug.

Glen Coe. Das schönste Tal Schottlands, so sagen viele.
Katjas Erinnerung an Glen Coe ist: grün.
Meine Erinnerung an Glen Coe ist: Berge und Kurven. (Katja hatte im Bus "Extra für dich!" einen Sitz gewählt, von dem aus ich eine großartige Aussicht auf eine, nun ja, recht freizügig bekleidete und wohlgeformte Schottin hatte.)

Fort William ist die größte Stadt der Highlands und eine Touristenfalle, weil es direkt am Fuße des Ben Nevis gelegen ist, dem mit tausendzwohundertirgendwas Metern höchsten Berg der britischen Inseln. Interessanterweise ist der Ben Nevis 300 Tage im Jahr nicht zu sehen, trotzdem ist das Nest voller Bergsteiger und Tagesausflügler. Entsprechend teuer ist hier alles. Das Hotel, in dem wir schließlich Unterkunft fanden, war nichts besonderes, kostete aber 40 Pfund pro Nase. Das Essen, das wir in der Fußgängerzone in einem wenig anheimelnden Restaurant/Pub hatten, war okay bis gut, aber mit über 20 Pfund eigentlich auch zu teuer für Schottland: Katja hatte ein überbackenes Hähnchenschnitzel, ich einen (sehr guten) Angus-Beef-Burger. Dazu kamen zwei Limonaden. Anschließend haben wir noch das Ende des West Highland Ways gesucht und gefunden und ein paar Beweisfotos gemacht. Allerdings ging mir dieser Spaziergang zum Schluss des Tages ganz schön auf den Nerv, genauer: auf die Sehne. Mittlerweile machte ich mit dem rechten Bein derartige, falsche Ausgleichsbewegungen, dass meine ganze rechte Wade hart war und mir das ganze Bein weh tat. Die letzten 500 Meter ins Hotel dachte ich nicht schaffen zu können. Ich humpelte und hinkte, es tat fürchterlich weh. Endlich kamen wir im Hotel an. Unser Zimmer hatte eine Badewanne, das Wasser war heiß und es hatte Druck. Selten habe ich mich so sehr über ein richtig heißes Bad gefreut. Ich stieg hinein (aaaaaaaah!), setzte mich, legte mich ab und blieb erst einmal liegen. Sofort wurde es meinem Bein besser. Ich blieb so lange im heißen Wasser sitzen, bis ich ganz verschrumpelt war und sich Katja beschwerte, weil sie auch noch baden wollte. Aber als sie dann drin saß sagte sie: "Hier gehe ich nie wieder raus!"

Währenddessen lief eine faszinierende Kochshow im Fernsehen. Das Ding hieß "The f-word". Zu Hause muss ich mal nachforschen, was genau das ist. Schließlich (auch Katja war mittlerweile wieder aus der Wanne aufgetaucht) gingen wir ins Bett. "Lass uns morgen mal ein bisschen länger schlafen", sagte Katja noch und stellte den Wecker auf 8 Uhr.

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