Freitag, 20. Juni 2008

Cashel–Inversnaid, 18 Kilometer

Katja konnte mir einen tollen Wetterbericht der letzten Nacht geben, da sie leider kein Auge hat zumachen können: Erst hatte es stark gewindet, dann später kam Regen dazu. Anschließend wurde das Wasser wieder vom Zelt heruntergepustet, und dann legte sich der Wind. Die erste Nacht im neuen Zelt war also leider ziemlich ernüchternd für sie. Nicht so für mich: Mein Schlaf war erholsam, meinen Muskeln ging es - nach einer kleinen Anlaufphase - hervorragend. Nur meine Achillessehne will einfach nicht besser werden. Aber das wird schon!

Zum sonnigen Frühstück (der heftige Wind hatte sich über Nacht ja bereits gelegt) gab es Müsli mit Milchpulver und eine Scheibe pappigen britischen Brotes mit Zitronengelee, das wir in Mollgäi beim B&B stibitzt hatten. Die Vögel hier sind sehr zutraulich, wie es Tierfreunde vermutlich nennen würden. Besser gesagt sind sie rotzfrech. Sie kommen bis auf einen halben Meter etwa herangehopst und gucken, ob sie was abstauben können. Bei uns allerdings können sie das nicht. Wir essen alles selber auf.

Nachdem wir Zelt, Schlafsäcke, Isomatten und alles andere Zeugs gerade in die Rucksäcke verpackt hatten, begann es aus heiterem Himmel heftig zu regnen. Und das, obwohl die Regenwahrscheinlichkeit für heute bei unter 50 Prozent lag. Vermutlich bedeutet das: "40 bis 50 % - heftige, aber nur kurze Schauer." Denn nach nur fünf Minuten war alles vorbei und die Sonne kam wieder heraus. Wir brachen auf. Kaum waren wir nur zehn Minuten unterwegs, meldete sich wieder meine Achillessehne zu Wort. Besonders hügelabwärts schmerzte sie sehr, aber auch in der Ebene, während hangaufwärts zu gehen kein Problem darstellte. Hangaufwärts störten nur die knapp 20 Kilo auf meinem Rücken.

Auf dem schmalen Pfad entlang des Loch Lomond trafen wir an einem Parkplatz zwei Arbeiter, die damit beschäftigt waren, den West Highland Way gartentechnisch in Schuss zu halten, sprich: Sie kappen die vielen Ranken am Pfadesrand. Mit ihnen kamen wir ins Gespräch. Als sie hörten, wir seien Deutsche, fragten sie uns, ob wir denn das "tolle Fußballspiel gestern" gesehen hätten. Nein, wieso? Deutschland habe Portugal spektakulär mit 3:2 besiegt, und dieser hässliche Blonde habe hervorragend gespielt, während Ballack "absolutely genious" gewesen sein soll. Wie bitte? Deutschland hat Portugal besiegt?? Unfassbar. Da vergaß ich glatt meine Achillessehne für ein paar Minuten. Endorphine tun halt doch ihre Wirkung. :-)

Schließlich, nach endlos scheinenden sechs oder sieben Kilometern, kamen wir in den Ort Rowardennan. Ort? Am Ortseingang: eine Ferienhaussiedlung, dann ein Hotel. Dann 500 Meter gar nichts, dann ein Parkplatz und eine offiziell wirkende Hütte, deren Sinn wir aber nicht zu ergründen gedachten. Vielleicht die lokale Vogelwarte? In einem Kilometer Entfernung sollte dann noch die Jugendherberge kommen, und das wäre es dann mit Rowardennan. Zunächst ließen wir uns aber auf dem Parkplatz direkt am Wasser auf einer Bank nieder. Die Straße endete hier, daher gab es auch keinen großen Autoverkehr. Auf der Parkbank analysierten wir meine Schmerzen in der Ferse und beschlossen, noch den Kilometer in die Herberge zu gehen und dann dort für eine oder zwei Nächte zu bleiben und meinem Fuß eine Pause zu gönnen. Zwar soll dort kein Frühstück serviert werden, dennoch hat das Etablissements gute Kritiken bekommen.

So hinkte ich denn Katja hinterher. In der Einfahrt zur Jugendherberge (hier führte eine andere Straße hin, während der West Highland Way immer schön am Ufer des Lochs bleibt) holzte eine Horde von für diese Tätigkeit unangemessen bekleideten Damen und Herren (die sahen alle aus, als hätte ein wildgewordener Polizist wahllos 20 Autos angehalten und die Insassen zu Fronarbeit verdonnert) den halben tropischen Regenwald ab, der sich in Form riesiger Rhododendren in der Einfahrt zur Herberge breit gemacht zu haben schien. Auf dem Parkplatz des Anwesens (nicht anders kann man die Jugendherberge nennen) standen die 20 Fahrzeuge, die der wildgewordene Polizist herausgewunken zu haben schien. "Die gehören doch hoffentlich zu den Arbeitern", sagte Katja, doch wir wurden enttäuscht. Ein Schild an der Rezeption sagte unmissverständlich, dass man "Full for Tonight" sei.

Was tun? Wir hatten uns doch für etwas Ruhe entschieden - ein paar Stunden keinen Stress für meine Ferse. Zurück nach Rowardennan? 1,5 Kilometer bis zum Hotel? Nein danke. Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Dann lieber weiter. Wir konsultierten die Karte. Das nächste offizielle Etappenziel war das Hotel in Inversnaid - viel zu weit weg. Aber vorher sollte es noch einen ofiziell-wilden Zeltplatz und kurze Zeit später eine Lodge geben, die auf der Karte mit einem Bettensymbol versehen war, einige Kilometer vor Inversnaid dann auf dem unteren Weg (der Weg teilte sich 300 Meter nach der Lodge in einen Höhen- und einen alternativen Uferweg) noch eine Schutzhütte. Wir entschieden, zum Zeltplatz weiterzugehen. Meine Ferse rieben wir großzügig mit Mobilat ein, das einzige Mittel, das wir für solche Fälle mitgenommen hatten. Ich benutzte es schon seit zwei Tagen.

Bis zum Zeltplatz (und noch darüber hinaus) waren Massen an Leuten damit beschäftigt, Rhododendron zu vernichten. Soll der hier ausgerottet werden? Oder nimmt er einfach nur Überhand und wird einmal alle zehn Jahre zurückgeschnitten? Auf dem Zeltplatz rauchte es gewaltig; dort schien das ganze abgeschnittene Holz dann verbrannt zu werden. Also: Weiter zur Lodge. Immerhin war der West Highland Way hier ein gut ausgebauter, breiter Forstweg ohne große Steigungen oder Senken.

Der Weg dorthin muss für Katja eine Qual gewesen sein. Ständig hörte sie mein Jammern hinter sich: "Au!", "Geh nicht so schnell", "Ich brauch 'ne Pause" und so weiter und so fort. Doch sie nahm es mit großer Gelassenheit. Mir kreiste die ganze Zeit die Erinnerung an unsere 2006-er Weserwanderung von Hannoversch-Münden bis beinahe Hameln im Kopf herum: "Wieso immer ich, und wieso immer der rechte Fuß?" Damals hätte ich mir beinahe einen Ermüdungsbruch zugezogen.

Schließlich kamen wir über einen wunderschönen, Rhododendron-gesäumten Weg, der vom West Highland Way abbog, zur Lodge. Es handelte sich um ein hübsches, kleines Haus direkt am Ufer des Loch Lomonds, dahinter erstreckte sich eine frisch gemähte, grüne Wiese. Aber niemand war da. Was nun? Zurück zum Hotel in Rowardennan - mittlerweile fast drei Kilometer hinter uns, die wir noch einmal würden laufen müssen - oder lieber voran in Richtung Inversnaid auf dem unteren Weg, wo noch die Schutzhütte liegt?

Zunächst versuchten wir, telefonischen Kontakt zum Bunkhouse in Inversnaid herzustellen, um herauszufinden, ob es für uns noch einen Platz gab. Ein Bunkhouse ist eine Kategorie unter Jugendherbergen angesiedelt. Wir bekamen jedoch nur ein "Piep-Piep-Piep", dann brach die Verbindung ab. Mehrfach. Also versuchten wir es im Inversnaid Hotel. Mit dem gleichen, frustrierenden Ergebnis.

Ich schluckte Traumeel, ein Mittel gegen Entzündungen, das in Kombination mit dem allmählich wirkenden Mobilat ein kleines Wunder wirkte: Ein warmes Gefühl durchlief mich, dann konnte ich einigermaßen laufen. Jetzt allerdings machte sich - glücklicherweise nicht nur bei mir - die allgemeine Anstrengung bemerkbar, denn die Rucksäcke zogen uns ganz schön nach unten, denn wir mussten ganz schön nach hügelaufwärts krabbeln, um zur Abzweigung von Höhen- und Uferweg zu kommen. Oder hatten wir die Abzweigung schon verpasst? Doch zunächst trafen wir auf eine Schlange. Sie war etwa 30 cm lang, braun und wies keinerlei Zeichnung auf. Schlange oder Blindschleiche? Züngeln Blindschleichen mit gespaltener Zunge? Keine Ahnung.

Gerade als die Schlange den Abgang in die Büsche wagte, kamen drei mollige Damen den Hügel hinaufgeächzt. Eine davon identifizierte das Reptil als "Maybe a grass snake". Das wäre dann eine Ringelnatter. (Nach späteren Vergleichen bei Wikipedia glauben wir nun übrigens doch eher an eine Blindschleiche.)

Wir wanderten weiter und ließen die drei hinter uns pausieren. Stetig ging es hügelaufwärts. Längst hätten die 300 Meter nach der Lodge vorbei sein müssen, nach denen sich der Weg gabelt. Andererseits könnten wir aufgrund der Anstrengungen auch einfach ein ziemlich schlechtes Entfernungsgefühl haben. Zudem stand ich unter Drogen: Traumeel und Mobilat.

Wir tranken gerade einen Schluck Wasser, also uns die drei Damen wieder einholten. Sie waren definitiv fitter als ihr molliges Äußere Glauben machte. Wir fragten sie, ob auch sie heute nach inversnaid gingen. So kamen wir ins Gespräch, im Verlauf dessen ich mein Leid mit der Achillessehne (na, was heißt Achillessehne auf Englisch?) klagte, und dass wir nicht wüssten, ob wir in Inversnaid unterkommen können, da unser Telefon nur doof piepte. Eine der drei Ladies zog ihr Telefon heraus und rief kurzerhand und problemlos dort an. Sie buchte uns ein Zimmer und meldete, dass wir ungefähr gegen 18 Uhr dort ankommen würden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die drei uns ganz gut verstanden haben. Aber wir verstanden wenig von dem, was die drei erzählten ... Doch eins war klar, denn die Frau mit dem Telefon war eine Einheimische, und sie sagte, dass wir lieber den Höhenweg gehen sollten, und *nicht* den Uferweg. Der Höhenweg sei und bleibe ein Forstweg mit nur leichten Steigungen und Gefällen. Der Uferweg hingegen sei heftiger. So entschieden wir uns denn für den Höhenweg. Doch auch ohne diesen Umschwung wären wir wohl auf dem Höhenweg geblieben, denn wir konnten die Abzweigung beim besten Willen auch später nicht finden.

Die Damen verabschiedeten sich, und wir zockelten hinterher. Nach einer halben Stunde hatten wir sie wieder, denn sie hatten es sich an einem Aussichtspunkt mit Parkbank gemütlich gemacht. Wir gingen, Traumeel-gedopt, weiter.

Schließlich, laut Karte 4,5 Kilometer vor Inversnaid, kam von links ein Trampelpfad herauf, und ich witzelte, dass das bestimmt der Uferweg sei, der hier wieder auf den Hauptweg stoße. Im Nachhinein war das so witzig nicht, denn der Pfad schien tatsächlich der großartig im Reiseführer beschriebene Uferweg gewesen zu sein.

Nun ging es auf einem schmalen Pfad weiter, nicht mehr auf dem guten Forstweg. Entsprechend langsamer wurden wir und entsprechend weniger wirkte das Traumeel. Der Pfad war ziemlich anstrengend: über Stock und Stein, Fels und Bach, rauf und runter, immer entlang am Loch Lomond und (fast) immer im Wald. Sobald wir anhielten, fielen kleine Fliegen über uns her, wohl angezogen vom Schweißgeruch. Die "typische" Highland-Szenerie (Matsch, Moor, Felsen, Heide) hatten wir bisher nur am Conic Hill, und der markiert lediglich die Grenze zwischen High- und Lowland, gehört aber noch nicht wirklich dazu.

Plötzlich, irgendwo auf dem Weg, stank es erbärmlich. Und da waren sie: vier wilde Ziegen, riesige Viecher mit riesigen, gefährlich aussehenden Hörnern. Sie standen einfach oberhalb des Pfades und fraßen. Sie beäugten uns neugierig, ließen sich aber nicht stören und schienen auch nicht aggressiv zu sein. Im Reiseführer stand, dass man sie "mit etwas Glück" sehen könne, aber auf jeden Fall zuerst riechen würde. So war es in der Tat.

Unser beider Füße taten mittlerweile höllisch weh. Meine Achillessehnenschmerzen waren von den Fußsohlenschmerzen verdrängt worden. "Wann kommt denn endlich Inversnaid?" war alles, was wir noch denken konnten. Es fing an zu regnen, aber das war uns egal, da hinter der nächsten Kurve doch bestimmt Inversnaid liegen würde. Doch hinter der nächsten Kurve kam nur noch eine weitere Kurve. Noch nicht einmal den Wasserfall, der "kurz vor Inversnaid" zu finden sein solle, war erreicht. Was heißt eigentlich "kurz vor"? Ein Kilometer? Zwei?

Der Regen hörte auf, die Sonne kam heraus, der Regen setzte wieder ein. Kurve. Kurve.

"Ich glaub, da steht ein Haus", hörte ich Katja von vorne sagen. Mir reichte die Kraft nicht, um zu jubeln. Der Wasserfall war übrigens nicht "kurz vor" Inversnaid, sondern "direkt an" Inversnaid. Er markiert sozusagen die Grenze von ziegenbewohnter Wildnis zu satellitenfernsehender Zivilisation.

Wanderer haben einen eigenen Eingang zum Hotel, was verschiedentlich als Diskriminierung verstanden wird. Ich empfand es als Segen: Dieser Eingang liegt direkt am West Highland Way und erspart dem fußkranken Wanderer die komplette Umrundung des viktorianischen Gebäudes.

Wir buchten uns für zwei Nächte ein, denn nun brauchten wir beide eine ordentliche Regenerationsphase, und bekamen Zimmer 192. Das ist das Zimmer, das am weitesten weg und am höchsten hinaus war. Die Treppen und Fußböden waren schief und krumm, verzogen vom Alter und der immer währenden Feuchtigkeit Schottlands. Alles Interieur wirkte ein bisschen wie Erstausstattung: viktorianisch. Die Betten allerdings waren sehr bequem, und beim Fernseher handelte es sich um ein modernes LCD-Gerät von LG.

Nur das Wasser der Badewanne, auf die wir uns so gefreut hatten, wollte und wollte nicht heiß werden. Ich setzte den Manager davon in Kenntnis, und er versprach, sich darum zu kümmern, jedoch könne er nichts versprechen.

Das Abendessen war ein Dreigangmenü. Vorweg gab es eine geschmacklich hervorragende Sellerie-Crème-Suppe, in der der Pürierstab jedoch gut und gern noch etwas hätte tanzen dürfen. Katjas vegetarische Quiche sah gut aus und war lecker, ebenso wie meine Lammkeule mit Minzsoße. Was allerdings an der Soße minzig gewesen sein soll, weiß der Koch alleine. Vielleicht ist "mint" ein Synonym zu "brown" oder "warm"? Sehenswert war die Beilagenplatte zu meinem Gericht: Alleine von diesen Beilagen wären wir zwei satt geworden. 300 g Erbsen, 300 g Möhren, 500 g Kartoffeln (alles übrigens komplett ungesalzen - das ist hier so üblich). Zusätzlich lag meinem Lamm noch so eine Art würziger Pommes und Katjas Quiche eine Menge Salat und Coleslaw bei (das ihr zu sahnig war).

Wir wurden beide pappsatt.

Als die osteuropäische Kellnerin uns "wenigstens eine Portion" Erdbeerkäsekuchen aufdrängte, war uns schon klar, dass wir den nicht würden schaffen können. Und als er dann da war, war uns klar, dass wir ihn nicht würden essen *wollen*: Er war ziemlich unansehnlich mit seinen Dosenerdbeeren. Geschmeckt hat er auch nicht.

Katja hatte zum Essen eine Limonade, und die war richtig, richtig lecker. Anscheinend hausgemacht. Und der Whisky im Glas ist zudem preiswert: 2,50 Pfund pro 2,5 cl, und außerdem gibt es eine große Auswahl an Malts. Die einfachen Panschwhiskys wie Johnny Walker oder Teacher's gibt es gar nicht erst, und auch die besseren Blends wie etwa Ballentines finden sich nicht auf der Karte. Doch auf Alkohol habe ich irgendwie keine Lust.

Im Fernsehen lief Fußball. Türkei gegen Kroatien. Das Spiel inklusive der dramatischen Verlängerung und dem noch dramatischeren Elfmeterschießen guckten wir uns noch an, dann gingen wir ins Bett. Ungewaschen, denn das heiße Wasser lief noch immer nicht.

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