Sonntag, 22. Juni 2008

Inversnaid–Tyndrum, 0 km zu Fuß

Gegen Morgen schlief ich schlecht. Mein Bett stand zum offenen Fenster hin, und draußen rauschte es mächtig. Es regnete Katzen und Hunde, wie der Brite sagt. Immer wieder schlief ich ein, immer wieder wachte ich auf. Das Rauschen klang nach Weltuntergang.

Endlich standen wir auf und schauten uns das Drama an: Es regnete wirklich Bindfäden. Und ausgerechnet heute stand die schwierige und gefährliche Etappe nach Inverarnan an. Gefährlich besonders nach Regen.

Wir entschieden, beim Portier zu fragen, ob man irgendwie anders nach Inverarnan oder wenigstens nach Crianlarich kommt, den nächsten größeren Ort. Das Inversnaid Hotel liegt nämlich mehr oder weniger von der Zivilisation abgeschnitten, schwer zu erreichen am Ende der Seitenstraße eines Feldwegs. Es gibt keine Bus- oder Zugverbindung, keine Taxis, nicht einmal Privatautos, denn der Ort besteht eigentlich nur aus diesem Hotel, und das Personal ist zu 80 % osteuropäischer Herkunft mit Heimstatt im Hotel. Doch Andrej, der slowakische Portier, hatte sofort eine Lösung parat: Mit der Fähre über das Loch übersetzen, dann an die dort verlaufende Straße stellen und einfach den Bus rauswinken. So konnten wir beruhigt und angereichert mit Andrejs Sightseeingtipps frühstücken gehen.

Bei diesem Frühstück habe ich mich erstmals an Porridge gewagt. Schon die deutsche Bezeichnung "Haferschleim" klingt nicht sonderlich appetitlich. Was dann aber in meiner Schüssel dampfte, sah in der Tat noch widerlicher aus, als das Wort "Schleim" erahnen ließ. Trotzdem habe ich es probiert, erst zögerlich, dann jedoch überrascht: Porridge ist im Gegensatz zum ekelerregenden Äußeren komplett fad. Es schmeckt nach gar nichts, verbreitet aber eine angenehme Wärme im Mund. Auch das Taktile des Schleims war gar nicht sooo übel. Also habe ich ein bisschen Zucker reingerührt, und siehe da: lecker! (Später erfuhr ich, dass die Schotten normalerweise Salz reingeben.) Katja hat mit ziemlichen Ekel zugesehen, wie Löffel nach Löffel des körperwarmen Pamps in mir verschwand. Hätte ich ihr zusehen müssen, wäre vermutlich *mir* schlecht geworden. :-) Probieren wollte sie übrigens nicht.

Direkt im Anschluss an das Frühstück haben wir unsere Siebensachen gepackt und sind im mittlerweile nur noch leichten Regen vor das Hotel getreten. Verdutzt schauten wir nach dem Wasserfall. Gestern (ich habe noch einmal nachgeschlagen) beschrieb ich ihn als "milde rauschend", heute fände ich andere Adjektive dafür, "tobend" etwa, "schäumend" oder "reißend". Und sein Wasser war braun von mitgerissenem Torf und Erdreich. Was ein bisschen Regen über Nacht bewirken kann ...

Schließlich gingen wir runter an den Pier. Trotz des leichten Regens tauchten plötzlich riesige Schwärme klitzekleiner Fliegen, "Midges" genannt, auf, die sogleich begannen, uns und die nach uns zum Pier gezockelt gekommenen Senioren aufzufressen. Unfassbar: Da standen wir im Regen und hatten ein Insektenproblem. Die typische Handbewegung des Vormittags war ein wildes Wedeln vor dem Gesicht. Diese Midges haben etwa Fruchtfliegengröße, aber sie setzen sich auf jede freie Hautstelle und hinterlassen einen ziemlichen Juckreiz. Ausgesprochen unangenehm.

Schließlich kam die Fähre, ein überdachtes Boot mit 60 Mann Kapazität. Einer der Schiffer trug ein olivfarbenes Mückennetz über dem Kopf. Schlau. Echt schlau. Anscheinend sind die Eingeborenen hier vorbereitet auf Midges.

Beinahe hätten wir nicht mehr mit dem Boot mitgedurft, weil dr Kahn zu voll wurde. Dabei waren wir die ersten am Pier gewesen. Dennoch: Mit unseren Rucksäcken hätten wir vier Plätze eingenommen, und die Senioren hatten eindeutig Vorrang. Wir blieben also in Regen und Midgieschwarm draußen stehen, bis klar war, dass wir stehend mitgenommen werden würden. Die Rucksäcke allerdings mussten draußen bleiben und wurden auf das Bootsdach gelegt, nur gesichert durch eine niedrige Reling.

Das Loch war ruhig, Wind ging keiner. Dafür wurde der Regen wieder etwas stärker. Auf der anderen Seite des Lochs angekommen (das Übersetzen hat übrigens nichts gekostet) wies uns der Fährmann noch den Weg zur Straße. Wir sollten uns an ein blaues Tor am dort befindlichen Wasserkraftwerk stellen. Dort könnten wir den Bus am besten herauswinken, weil Platz zum Halten sei und der Busfahrer einen auch rechtzeitig sehen könne. Auf dem Weg dorthin fiel uns ein anderer Wanderer auf, der bereits am Straßenrand stand und offenbar auf den Bus wartete. Weil er aber dort ganz fürchterlich falsch war, nämlich in einer langgezogenen Kurve, in der weder er den Bus noch der Busfahrer ihn in seinem nassen, grün-braunen Outfit sehen würde und wo auch kein Platz zum Halten war, riefen wir ihn an und luden ihn ein, mit uns zu warten. Wir stellten uns unter die Äste eines Baumes nahe des blauen Tors am Kraftwerk.

Der nasse Knabe war ein 28-jähriger Amerikaner aus North Carolina (schon wieder so einer!), der derzeit in der Welt herumtingelt und sich sein Campingzeug von schottischen Freunden zusammengeliehen hatte. Leider war das Material wohl nicht so toll: Sein Zelt hatte der letzten Regennacht nicht standgehalten und sein Schlafsack war nass geworden, und so wollte er nach Crianlarich in die Herberge, um wieder zu trocknen. Wir unterhielten uns prima und trennten uns dann, als der Bus (den wir erfolgreich nach 40 Minuten Warterei im Regen herausgewunken hatten) in seinem Zielort hielt. Katja hatte mittlerweile demokratisch entschieden, noch einen Ort weiter zu fahren, nach Tyndrum.

Die etwa 30 km zwischen Inversnaid und Tyndrum, für die wir zu Fuß zwei Tage veranschlagt hatten, legten wir so in nur etwas mehr als einer Stunde zurück - und davon war die halbe Zeit für Warterei auf Fähre und Bus draufgegangen.

In Tyndrum angekommen steuerte Katja erst einmal die Touristinformation an, die nur ein paar Meter vom Busstop entfernt war. Dort ließen wir uns ein B&B buchen. Allerdings machte das erst um 16 Uhr auf, und es war gerade mal erst 11 Uhr. Na gut, es gab immerhin öffentliches Internet, das nicht zu teuer war, und wo ich meine erste Meldung aus Schottland ins Blog postete. Aber dann blieb nur noch der Weg zur Tankstelle, wo wir (A) Postkarten, (B) Briefmarken und (C) für 4,50 Pfund pro Stück Anti-Midgie-Netze für unsere Köpfe kauften. Danach blieb uns nur noch der Gang ins Pub, um die Postkarten zu schreiben und vor dem Regen geschützt die Zeit totzuschlagen.

Wir aßen die Gemüsesuppe des Tages und ertrugen den persönlichen Musikgeschmack der leitenden Bedienung (R&B der schlimmsten afroamerikanischen Sorte - derartige Musik schürt vermutlich Rassismus), bis endlich ein Schichtwechsel eintrat und sich jemand erbarmte, auf das Formel-1-Rennen umzuschalten. Das war zwar ebenso langweilig, aber der Sound war eindeutig besser. Wir konnten davon 27 Runden sehen (ich orderte unterdessen ein Panini, das ist ein getoastetes Baguette mit allerlei Belag), dann, zwei Runden vor Schluss und ein halbes Panini vor mir, kam plötzlich das Pärchen aus Leeds herein, das wir zuletzt in Balmaha vor dem Oak Tree Inn getroffen hatten. Endlich hatten wir nette Gesprächspartner am Tisch!

Der Nachmittag mit Steve und Chris, so hießen die beiden, wurde sehr lustig, und ich habe keine Ahnung, wer das Rennen gewann. Steve und ich, so entdeckten wir sehr schnell, haben gemeinsame Interessen: Geschichte, Politik und Single Malt Whisky. Entsprechend hatten wir viel zu erzählen, inklusive einiger Fachsimpelei über die an der Bar ordentlich aufgereihten Whiskyflaschen. Schließlich, viel später als 16 Uhr, verließen wir das Pub, um noch ins B&B einzuchecken. Die zwei anderen gingen noch etwas zu essen einkaufen, wir verabredeten uns aber für halb sieben zum Abendessen.

Wir waren absolut pünktlich - und das, obwohl wir keine Uhr dabei hatten. Steve und Chris saßen schon da - und hatten bereits gegessen. So aßen denn nur Katja und ich etwas, dann genossen wir noch einige kleine Gläschen edlen Malts. Chris und Katja kamen dabei ebenfalls nicht zu kurz. Die beiden gingen dennoch recht früh, weil sie vorher wenig Schlaf gekriegt hatten, und so gingen auch wir zu unserer Unterkunft, um zu duschen (die Dusche und das Waschbecken waren direkt im recht engen Zimmer untergebracht, wohingegen man sich die einzige Toilette mit vier oder fünf anderen Räumen teilen musste). Ich schrieb Tagebuch, danach schauten wir, ob Italien oder Spanien rausfliegt. Spanien kam weiter.

Ob wir Chris und Steve wiedertreffen? Jedenfalls haben wir E-Mail-Adressen ausgetauscht und wollen locker in Kontakt bleiben.

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